100 Jahre - Lucius & Annemarie

Lucius setzte sich öffentlichkeitswirksam für den Erhalt der Basler Altstadt ein, gemeinsam bekämpften sie die Nordtangente; Annemarie wirkte im Heimatschutz mit, er im Werkbund; sie zog für die Grüne Alternative Basel in den Grossen Rat ein, eine Partei, die er mitgegründet hatte; er arbeitete an Hochschulen im In- und Ausland und etablierte, von ihr unterstützt, die Spaziergangswissenschaft: Lucius Burckhardt (1925–2003) und Annemarie Burckhardt-Wackernagel (1930–2012) waren ein bemerkenswertes Basler Paar. Ihren Nachlass vermachten sie 2012 der UB Basel. Anlässlich des 100. Geburtstags von Lucius 2025 würdigt eine Ausstellung das Lebenswerk des Ehepaars. Kuratiert wurde sie von der Storie Kulturagentur, gestaltet von Elena Antoni. Der grosse Zuspruch zeigt, wie einnehmend und anschlussfähig die Ansätze der beiden Burckhardts heute noch sind.

 

Erster Spazierstock? Lucius wird 1925 als jüngster Sohn in eine siebenköpfige Arztfamilie geboren. Sein Vater leitet ein Tuberkulose-Sanatorium für Kinder in Davos. Die Familie lebt in einer modernen Villa des Architekten Rudolf Gaberel, jedoch nach patrizischer Lebensart und Sitte. Schon als Kind entwickelt Lucius ein grosses Interesse an der Natur. Er begleitet seinen Vater auf die Jagd, dokumentiert Flora und Fauna und wird zum leidenschaftlichen Schneckenhaus-Sammler. Lucius bleibt bis zur Matura in Davos.

Burckhardt-Wackernagel Annemarie und Lucius feiern am 17. März 1955 Hochzeit. Aufgrund einer Tuberkulose muss sie zu einer Kur nach Davos. Zu dieser Zeit ist das Paar örtlich getrennt, weil Lucius seine Stelle in Dortmund antreten muss. Sie schreiben sich täglich Briefe. Als Annemarie wieder gesund ist, kehrt sie nicht mehr in ihren Beruf zurück, sondern arbeitet fortan an Lucius’ Seite. Sie wird sein wichtigstes Gegenüber und prägt seine Lehre mit.

Affinität zur Mode Annemarie absolvierte in Basel eine Schneiderinnen-Lehre, die den Grundstein für ihre lebenslange Verbindung zur Mode legte. Ab den 1970er-Jahren trat sie zunehmend in akzentuiert modischer Kleidung auf, inspiriert von den Kollektionen renommierter Brands. Sie verortete sich als Künstlerin allmählich in der avantgardistischen Modedesignbranche und machte ihren Auftritt zu einem Ausdruck von Selbstbewusstsein und Leidenschaft.

Professur in Kassel Lucius wird zum Professor für sozioökonomische Grundlagen der Städteplanung an der Gesamthochschule Kassel ernannt. Er vertritt dort eine neuartige, interdisziplinäre Hochschullehre und unterrichtet an der Schnittstelle von Soziologie, Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung, Design, Literatur- und Kunstwissenschaft sowie zeitgenössischer Kunst. Das Paar zieht nach Kassel, kehrt jedoch regelmässig nach Basel zurück.

Der Nullmeter oder wo beginnt die Landschaft? Um den Kipppunkt vom Einzelnen zum grossen Ganzen sichtbar zu machen, erfindet Paul-Armand Gette den Nullmeter. 1985 stellt er ihn gemeinsam mit Annemarie und Lucius im Kasseler Park Wilhelmshöhe auf. Sie zeigen, dass der Beginn der Landschaft mit den Betrachtenden wandert. Den Nullmeter positionieren sie auch auf der Furka, wo das Ehepaar regelmässig das Kunstprojekt Furk¢art besucht und zum Teil künstlerisch mitwirkt.

 

Zeitlebens treibt Annemarie und Lucius die Frage um, welche Interessen hinter der Stadtplanung stehen und wer von deren Entscheiden profitiert. Sie vertreten die Auffassung, dass Stadtplanung für die Menschen gemacht werden soll und urbane Räume partizipativ – unter Einbezug der Bevölkerung – gestaltet werden müssen. In seinem grundlegenden Werk «Wer plant die Planung?» (1980) entwickelt Lucius ein Interaktionsmodell zwischen Mensch, Umwelt und Politik, bei dem er die Planung in einem Dreiecksverhältnis beschreibt.

Stock_und_Stein

Über Stock und Stein

Der Spazierstock mit der Aufschrift «Hier ist es schön» ist ein Produkt von Burckhardts Studenten Andreas Gram und Martin Schmitz. Der Stock lässt die Spazierenden darüber nachdenken, wie es um die Schönheit eines Orts bestellt ist.

Chemiekatastrophe

Chemiekatastrophe

Filzstiftskizze der Sandoz-Fabrik Schweizerhalle. Lucius ist ein guter Zeichner. Er skizziert und aquarelliert fast unablässig. In seinen ironischen Skizzen und Karikaturen drückt er seine Gedanken zum Zeitgeschehen aus – hier zum Grossbrand von Schweizerhalle 1986.

Das gute Leben der Menschen als Mass und Ziel

INTERVIEW MIT MARKUS RITTER

UB: Markus Ritter, Lucius Burckhardt war von jungen Jahren an ein pointierter Kritiker der Basler Stadtplanung. Eine Stadtplanung, welche die Bedürfnisse der Bevölkerung und die natürliche Umgebung in seinen Augen überging. Heute gibt es partizipative Workshops zu Arealgestaltungen. Freiraum, Grünflächen und Baumbestand sind Begriffe, um die kein Stadtplanungsprojekt mehr herumkommt. Da müsste er eigentlich zufrieden sein.

Markus Ritter: Nun ja, er hätte nach wie vor viel zu kritisieren. Er würde zum Beispiel Anstoss daran nehmen, dass 22 Jahre nach seinem Tod noch immer die gleichen polytechnischen «Lösungen» praktiziert werden: Klimaerhitzung = «Mobile Bäume» aufstellen; Stau auf den Fernstrassen = Rheintunnel-Autobahn bohren; Wohnungsnot = Wohntürme in Freiflächen bauen. Das ist enttäuschend. Freude bereitet indes, dass heute niemand mehr die Probleme des eindimensionalen Städtebaus unter der Dominanz der Verkehrsplanung leugnet. Es ist Zeit, Burckhardts alternativen Städtebau in die Tat umzusetzen.

Die Burckhardts wirken in ihrem Denken und Handeln sehr progressiv. Es wird aber immer wieder gesagt, dass sie durchaus auch standesbewusst waren und in gewisser Hinsicht traditionell. Können Sie das für uns ausführen?

Das ist ganz einfach. Alteuropäische Bildungstradition gebietet Menschenfreundlichkeit und mit den natürlichen Gütern einen respektvollen Umgang. Im Kapitalismus ist das allmählich in Vergessenheit geraten. Dadurch erscheint manches Traditionelle als «progressiv».

Sie haben das Ehepaar Burckhardt gut gekannt. Was ist ihrer Ansicht nach ihr wichtigstes Vermächtnis?

In Prozessabläufen zu denken. Und in Lehre und Praxis stets vom guten Leben der Menschen als Mass und Ziel auszugehen.

Nachdem das Schaffen von Lucius und Annemarie Burckhardt in Basel für längere Zeit nur wenig rezipiert wurde, ist das Interesse in jüngster Zeit wieder gestiegen. Worauf führen Sie das zurück?

Die Phase der Vergessenheit von Burckhardts Positionen hängt mit seinem Verstummen nach 2003 zusammen. Sein Werk ist sehr zerstreut publiziert. Das neuerlich stark gestiegene Interesse hängt hingegen mit der überzeitlichen, grundlegenden Fundierung ihres Schaens zusammen. Junge Menschen verstehen sehr gut, was da gesagt und gefordert wird. Die Probleme der Stadt- und der Landschaftsräume im 21. Jahrhundert können nicht verhindert werden durch die Fortsetzung von Fehlern wie im 20. Jahrhundert. Sondern durch Transformationen, die in kritischen Auseinandersetzungen ausgehandelt werden müssen.

Markus Ritter war langjähriger Freund und Projektmitarbeiter des Ehepaars. Er ist Stiftungsrat der Lucius und Annemarie Burckhardt Stiftung und hat gemeinsam mit dem Verleger Martin Schmitz mehrere Publikationen von Lucius Burckhardt neu ediert.

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«Falscher» documenta-Katalog

Obwohl das von Annemarie geschneiderte Kissen einen Rechtsstreit auslöst, lassen sie und ihre Mitstreiter sich den Spass nicht verderben: In einer Ausstellung in der Galerie Martin Schmitz in Kassel verkaufen sie ein Bastelset für jedermann und bringen den juristischen Briefwechsel im Büchlein «Der falsche documenta-Katalog» heraus.

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Der Tahiti Spaziergang

Der wohl bekannteste Spaziergang von Lucius und Annemarie ist «Die Fahrt nach Tahiti» von 1987. Ausgehend von den Reiseaufzeichnungen von Thomas Cook und Georg Forster, die im 18. Jahrhundert auf Entdeckungsreise in die Südsee gingen, wollen sie herausfinden, was die Entdecker*innen eigentlich entdeckten. In der Umgebung von Kassel inszenieren sie während der Kunstausstellung documenta 8 mit Studierenden zehn Stationen auf einem stillgelegten Truppenübungsplatz. Dort liest ein Schauspieler Textpassagen aus Forsters «Reise um die Welt» vor. Die ungewohnten Beschreibungen fordern die antrainierten Wahrnehmungsmuster der Studierenden heraus.

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Kritik Stadtplanung

Ab den 1950er-Jahren kritisierten Lucius und Annemarie eine Stadtplanung, die sich der «autogerechten Stadt» verschrieben hat. Sie waren überzeugt davon, dass mehr Strassen mehr Verkehr bringen, nicht weniger. Sie wehrten sich gegen Strassenausbauprojekte wie den Cityring oder die Nordtangente. Auch für den Erhalt historischer Bausubstanz standen sie ein. Annemarie gab von 1972 bis 1983 das Mitteilungsblatt des Basler Heimatschutzes heraus.