Bei der Bearbeitung von Nachlässen entdeckt man manchmal ganz unerwartete Dinge. Stephanie Mohler berichtet über zwei spezielle Fundstücke, die zwischen Buchseiten versteckt waren.

Schmetterlinge waren nicht seine grosse Leidenschaft. Zumindest ist das in der einschlägigen Literatur und in seinem Nachlass, der in der Universitätsbibliothek Basel liegt, nicht bezeugt. Aber der 1810 im hessischen Lauterbach geborene Adolf Spiess begeisterte sich seit Kindestagen für den Turnsport. Bereits während seiner Studienzeit in Halle und Giessen Ende der 1820er Jahre versuchte er, das studentische Turnwesen zu beleben und eine Turnerschar zu gründen – angesichts der restriktiven staatlichen Politik gegen Turnvereine kein leichtes Unterfangen. Turnen war damals in fast allen deutschen Ländern untersagt, weil die Turnvereine als Brutstätten nationalistischer Aktivitäten galten. So entzog sich Spiess den einsetzenden behördlichen Repressalien auch unmittelbar nach seinem theologischen Examen: 1932 flüchtete er zuerst nach Assenheim, wo er als Hauslehrer bei einem Grafen arbeitete, bevor er kurze Zeit später zusammen mit seinem Bruder Hermann in die Schweiz weiterzog, um seine turnpädagogischen Reformvorstellungen verwirklichen zu können.

Der Schmetterling wurde im Skizzenbuch belassen und in Plastik eingenäht. UB Basel, NL 305: C 6.

Der «Todesschatten» des Schmetterlings im Skizzenbuch IX (Titelbild ganz oben). Der Schmetterling wurde im Skizzenbuch belassen und in Plastik eingenäht. UB Basel, NL 305: C 6.

Barthaare von Adolf Spiess

«Mein Bart, geboren in Halle am 9. Oktober 1829, gestorben in Frankfurt am Main im goldenen Ross, 3. Aprill [sic!] 1830», notierte Adolf Spiess auf dem Umschlag dieses Fundstücks. UB Basel, NL 305: D 16.

In Burgdorf fand Spiess eine erste Anstellung und erteilte Zeichen-, Geschichts- und Turnunterricht. Ab 1835 gab er auch Turnstunden am Primarlehrerseminar in Münchenbuchsee. Er unterrichtete an diesem Ort Johannes Niggeler (1816–1887), den späteren «Turnvater» der Schweiz. 1844 wechselte er nach Basel, nachdem ihn dort die Turnkommission der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige wegen einer grassierenden «Turnunlust» und der «besorgniserregenden Entwicklung des städtischen Turnwesens» engagiert hatte. Spiess war in Basel am Gymnasium, an der Realschule, am Waisenhaus und ab 1845 auch an der Töchterschule tätig und veranlasste als städtischer Turnpädagoge die Einrichtung eines Schulturnplatzes beim Petersplatz. Doch zog es ihn nach der Aufhebung der «Turnsperre» zurück nach Deutschland. Nachdem er verschiedene Angebote abgelehnt hatte, wurde er 1848 Leiter des hessischen Turnwesens.

Während seiner Zeit in der Schweiz veröffentlichte Adolf Spiess «Die Lehre der Turnkunst» in vier Bänden. Zwischen 1847 und 1851 schrieb er am «Turnbuch für die Schulen», seinem wohl wichtigsten Werk. Die Frei-, Ordnungs- und Geräteübungen, die auf Gehorsam und Disziplin zielten, gelten heute als überholt. Der Kreativität liessen sie wenig Raum und auch die Abstimmung auf individuelle Bedürfnisse war kaum möglich. Doch durch den Einbezug tradierter Spiel- und Bewegungsformen sowie die Durchführung von Wanderungen, Turnfesten und -fahrten wurde der Schulalltag aufgelockert. Spiess’ Forderung nach der Verankerung des Turnens im Schulgesetz hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Institutionalisierung des Sportunterrichts sowohl in Deutschland wie auch in der Schweiz. Zudem gilt er als Begründer des Mädchenturnens.

In der Natur war der Turnpionier nicht nur im Rahmen seines Unterrichts unterwegs. In seiner Freizeit unternahm Spiess ausgedehnte Reisen durch Süddeutschland und die Schweiz bis nach Grenoble oder Lyon und dokumentierte diese in seinen Skizzenbüchern. Seine detailverliebten Zeichnungen und Aquarelle zeugen von seiner Vorliebe für Burgen und Ruinen in unberührten Landschaften, Schlösser, Stadttore und sakrale Bauten. Mit filigraner Schrift hielt er nicht nur Ort und Datum, sondern oft auch fest, mit wem er unterwegs war. Zum Auerbacher Schloss am westlichen Rande des Odenwalds etwa begleitete ihn am 6. Mai 1849 seine Ehefrau Marie, Bruder Hermann und ein Otto. Hermann und Otto waren auch dabei, als er im September desselben Jahres den Kurort Bad König besuchte. Gegessen haben die drei Herren dort: «Cotelette».

Im Skizzenbuch IX sind nach einem Eintrag vom 2. Januar 1852 ein paar Seiten leer geblieben: Leichensaft hat darauf Flecken hinterlassen. Und plötzlich, beim Weiterblättern, rutscht ein toter Schmetterling aus dem Büchlein. Sein «Todesschatten» hat sich ins Papier gefressen. Ob er sich während einer Exkursion auf der Seite niederliess und beim Zuschlagen des Buches nicht mehr rechtzeitig wegfliegen konnte? Vielleicht entdeckte Adolf Spiess den toten Schmetterling später und liess ihn bewusst an Ort und Stelle, zu Dokumentationszwecken sozusagen? Oder konservierte er ihn bewusst in seinem Skizzenbuch, wie etwa auch Blumen und Gräser aus «hohen Bergen» in einem gesonderten Heft? Auf jeden Fall ist das Insekt neben anderen Kuriositäten wie dem Barthaar des Pädagogen fester Bestandteil seines Nachlasses geworden – eingenäht und geschützt in Plastik.

Text: Stephanie Mohler; Bilder: UB Basel

 

Ein herzlicher Dank geht an Andreas Dix für den Hinweis auf den Schmetterling sowie an Alice Tran für die Ausführungen zur Konservierung und Bestandserhaltung in der Universitätsbibliothek Basel.